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Neue Medien - Roman

Edelbauer, Raphaela:

Die Inkommensurablen

„Die Plausibilität ist aus dem ganzen Universum herausgesaugt“

Ein Bauernknecht flüchtet Stunden vor dem ersten Weltkrieg nach Wien, trifft eine Mathematikerin und einen Adeligen, mit denen er durch die Wiener Unterwelt torkelt. Sie sind schablonenhafte Figuren, die mehr oder weniger illuminiert zu jeder Tages- und Nachtzeit Philosophie treiben und eine konstruierte, mittlerweile folkloristische, Szenerie durchlaufen: Wien, der vielstimmige Schnittpunkt von Ost und West, der Vielvölkerstaat, die Monarchie im Zerfall, erwachte Nationalismen, Blasmusik und Lesbierinnen, Adel, Militär und Psychoanalyse. Sie hoffen, dass der Krieg die verkrusteten Verhältnisse umstürzt und verwirklichen so trotz selbst wahrgenommener Einzigartigkeit den kollektiven „Ursumpf aus Trieben, Impulsen und Geschlechtlichkeit“. Denn das ist die thematische Metapher: Mathematisch inkommensurabel sind irrationale Zahlen, denen das gemeinsame Verhältnis, die Ratio, fehlt, und in der historischen Distanz auch das Verhältnis von individuellem und Massenwahn.
Es hätte eine interessante Meditation über Massenpsychose in der Coronazeit geworden sein können, aber so wie Edelbauer sich in den Vorgängerromanen übergroße Vorbilder und Themen auflädt, so kann sie auch hier das Thema nicht adäquat durchführen. Etwas abgeschmackt.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Niedermeier, Manuel:

Das ist einer, der lebt!

Die Vergangenheit ist nur das Vorspiel für das Kommende

Der Erzähler mit den wechselnden sprechenden Namen „Winden“ bzw. „Schoner“ erzählt von lauter Flüchtenden: seinem Bruder, seinem Vater, seiner Partnerin, sich selbst. Er projiziert seine tragische Geschichte auf die Biografie und das Schaffen des historischen Arthur Cravan und erzählt diese, durchsetzt mit seinem eigenen Schicksal, im Livestream „als Abschluss“, parallel zu Cravans Aktion, sich auf der Bühne tot zu trinken. Der Stoff von Cravans Fiktionen sind zunächst Niederlagen (und der Anklang des Pseudonyms an „to crave“, sehnen, ist wohl beabsichtigt), und auch der Erzähler flüchtet in Fiktionen, denn „im Gitter der Syntax und im Schleier der Worte lässt sich fast alles bändigen.“ Doch ausnahmslos alle Fluchten, zumeist aus der Familie, scheitern.
Das Ganze wird im Kokainrausch etwas atemlos, sprunghaft mit Anklängen an Sturm und Drang und Coming-of-Age erzählt, aber mit spiegelbildlichen Figuren nett konstruiert. Es geht um Loslösung, ausgelieferte Kinder, Möglichkeiten von Literatur. Les- aber nicht unabdingbar.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Mosebach: Taube und Wildente

Mosebach, Martin

Taube und Wildente

Der Vorhölle entkommt man nicht

Rupert und Marjorie, er Verleger, sie Kolonialvermögenserbin, haben sich in ihrer jeweils zweiten Beziehung auf eine Art Nichtangriffspakt geeinigt, sie wollen sich nicht bedrängen, trennen sich in einem Moment des Hasses, landen aber nach einiger Zeit wieder beim alten Arrangement. Oft gelesen. Aber Mosebach kleidet das gekonnt in ein bezugsreiches Netz verarbeiteter Themen um Abhängigkeiten, Manipulation, philosophische Einstellungen, Kunst, Literatur und Gesellschaftsentwicklungen, unter dem distanzierten Blickwinkel der „Grausamkeit. Zuschauen, wie etwas Schönes zerfetzt wird.“ Eine besondere, mehrfach symbolische Rolle spielt das Bild „Tote Feldtaube und Wildente“, und der/die LeserIn sollte sich das Bild in Farbe ansehen (im Buch unkommentiert nur schwarzweiß), um darauf zu kommen, warum der Autor „tot“ eigentlich weggelassen hat, oder wer der ProtagonistInnen nur in diesen Größenverhältnissen dargestellt wurde. Leitthemen sind Blut, Gewalt, Zerstörung, aber auch Genuss des Dazwischen, regelmäßige Tätigkeit, Akzeptanz, gemischt mit scharfen Beobachtungen und satirischen Einlagen. Im ersten Teil sind die Kräfte am Werk, im zweiten Teil mit geklärteren, aber langweiligeren Verhältnissen.
Ein mehrschichtiges Buch mit Anknüpfungspunkten für viele LeserInnen (und Rezensionen).

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Schäfer: Die Schuhe meines Vaters

Schäfer, Andreas

Die Schuhe meines Vaters

Walk a mile in my shoes

Dem Erzähler zerfällt die Erinnerung an den Vater in Teilstücke, er verliert den „ganzen“ Menschen. Dieser hatte Metastasen im Schädel, erleidet eine Hirnblutung im Hirnstamm, die lebenserhaltenden Maschinen sollen abgeschaltet werden. Eindrücklich wird die Zumutung, das entscheiden zu sollen, sich vom Vater in diese Rolle, die ihm nicht zusteht, gedrängt zu sehen, geschildert.
Der Sohn beschreibt die positiven und negativen Erinnerungen an ihn, einen Einzelkämpfer, mit Pedanterie und einer gewisse Monomanie. Er schämte sich lange Jahre für ihn. Im zweiten „professionellen“ Teil nennt er Biografie und Lebensstationen, aber findet die persönliche Perspektive erst wieder, als er das Erzählte mit eigenen Erinnerungen als Jugendlicher unterfüttern kann. Im dritten Teil findet ein „erinnernder Abschied durch Wiederholung von Handgriffen und Gewohnheiten“ statt, er geht eine Wanderung des Vaters nach und erkennt, wie ähnlich er ihm eigentlich ist.
Auch formal bemüht sich Schäfer immer wieder um Abgrenzung, reflektiert über Berichtetes, Konstruiertes und Erlebtes. „Ich weiß nichts von ihm, und das wird immer so bleiben.“ Trotzdem eine Annäherung.
Empfehlung für ein unsentimentales, unschweres Erinnerungsbuch.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Langenegger: Was man jetzt noch tun kann

Langenegger, Lorenz

Was man jetzt noch tun kann

Durchkommen mit Sperrgepäck

Die Schweizer „Taugenichtse“ haben sich mit Robert Walser, Markus Werner und Christian Kracht verbreitet, und auch von diesem Autor sind sie aus den Vorgängerromanen bekannt. Sie empfinden Unbehagen am Alltag, haben geheime Ziele, aufgegebene Leidenschaften. Manuel, unser Protagonist, hat Zweifel an der Beständigkeit und keine Zuversicht, also alles, was ihm zum angepassten, erfolgreichen Leben fehlt. Das sieht auch seine Freundin so, ebenso wie sein beruflicher Lebenslauf. Er lässt sich durch die Umstände bestimmen, treiben, landet aber irgendwie immer auf den Beinen. Durch den überraschenden Tod seines Vaters mit Hinterlassenschaft einer maroden Firma und 200.000 Rohschlüsseln wird er aus seiner Beschäftigungslosigkeit gerissen, selbst die Freundin setzt ihn vor die Tür und er nimmt sich der Erbschaft an. Gleichzeitig wird er von einer zufrieden atmenden oder schnarchenden Person (seinem Vater? seinem Ich?) im Ohr belästigt, die er erst mit dem letzten Schlüssel loswird. Die Aventüre konfrontiert ihn mit seiner Vergangenheit, seinem Lebensentwurf, Reisen, zeitgenössischen Automaten, aber er findet einen neuen Anfang.
Recht mitfühlend geschilderte Trauerbewältigung der anderen Art, lakonisch bis heiter, leicht und unterhaltsam lesbar.

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Peschka: Putzt euch, tanzt, lacht

Peschka, Karin

Putzt euch, tanzt, lacht

Projekt eines widerständigeren Älterwerdens

Die 57-jährige Fanni flüchtet - zunächst impulsiv und unsicher - aus ihren Lebensumständen, verlässt aber dann Ehe, Familie, Haus und Beruf und die damit verbundenen tradierten Regeln und Rollen. Sie findet Unterschlupf in einer halb verlassenen Almhütte und einer ebensolchen Freundschaft, hat Panikattacken, wird von einer neuen Freundin aufgepäppelt und stabilisiert, macht eine psychologische Reise in ihre Biografie und entdeckt die Stränge, die sie zeitlebens durchzogen haben. In immer sicherer gelingenden Akten der Selbstermächtigung schafft sie Rebellion und Emanzipation und gründet eine alternative freisinnige Wohnform, wo sie „sich an Besitz und Beziehung nicht binden lassen“ möchte. Diese „Schutzhütte“ stellt im Verhältnis zu ihrem vorherigen Leben eine Art optimistisches, aus der Zeit gefallenes Idyll dar, das ihr glückhaft zugefallen ist und welches sie zu kultivieren vorhat.
Mithilfe mehrerer Zeitebenen, ausgesparter Informationen, Bewegungen zwischen Orten und Figuren sowie leichter Verfremdung durch Verschiebung in die nahe Zukunft und mit einer Unmenge an Metaphern schafft Peschka sowohl Spannungsbogen als auch funktionierende Bezugskontexte.
Peschkas literarisches Werk sollte – vielleicht mit diesem Buch! – Platz finden in der Abteilung österr. Gegenwartsliteratur.

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Peter Zantingh: Nach Mattias

Zantingh, Peter
Nach Mattias

8 Spiegel des Verlustes

Mattias ist „in der Blüte seiner Jahre völlig unerwartet von uns gegangen“, wie Todesanzeigen verschleiernd behaupten. Wie das passiert ist, lässt der Autor in Form von 8 Erzählstimmen aus je eigener Perspektive beleuchten. Angesiedelt im heutigen präcovidianischen Europa kommen Partnerin, Freunde, Familie und deren Kontakte zu Wort und nähern bzw. entfernen sich von Mattias mit menschlichen Reaktionsweisen auf Verluste: sehnsüchtig, diszipliniert, selbstbezogen, drogenabhängig, realitätsflüchtig, rational oder verleugnend.
Die Kapitelfolge um eine „Leerstelle“ ist unterhaltsam bis melodramatisch und findet ein etwas erklärendes, überdeutliches Ende in einem überindividuellen Gemeinschaftserleben.
Ein Beispiel internationaler Gegenwartsliteratur mit aktuellen Bezügen zur Lebensrealität Ende der 2010er-Jahre.

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Jon McGregor: Stürzen Liegen Stehen

McGregor, Jon
Stürzen Liegen Stehen

Kommunikationseinschränkungen durch und durch

Es ist eine Menge melodramatischer Zutaten: Antarktissturm und Bergungsaktion, eine erfolgreiche Gattin, die plötzlich den Mann pflegen soll, die Familie, die keine Hilfe ist, Sprachverlust und Verdächtigungen. Die Hauptfigur fährt schon 30 Jahre lang halbjährlich auf Forschungsstationen, seine Frau hat ihn geheiratet, damit sie ein halbes Jahr für sich hat und verfolgt ihre Karriere als Wissenschaftlerin. Während eines Sturms erleidet er einen Schlaganfall und ein Teammitglied stirbt, aber es bleiben Anschuldigungen, ob er Hilfe unterlassen hat. Sein Weg ist ein Weg in die Stille, und auch die Gattin fühlt sich in der Angehörigenposition belästigt von SMS, E-Mail, Anrufen, Arbeit. Sie begegnet den Zumutungen gebetsmühlenartig, und so ist der Alltag im Buch auch gut geschildert vorstellbar. Es dreht sich alles um ihn und sie findet keine Ruhe. Weite Strecken schildern Aphasietherapie und Ressourcenknappheit und der dritte Teil spielt großteils in der Gruppentherapie, wo Robert sich öffnet, die Vorfälle endlich darstellen kann und wieder zu einer Kommunikationsform findet.
McGregor gelingt es aus mehreren Perspektiven Spannung zu erzeugen, zeigt mit feiner Ironie die Brüche der Kommunikation, Schicksale werden nicht aufgelöst, was gesamt ein recht realistisches Bild über die Belastungen für Betroffene und Angehörige nach Schlaganfällen ergibt.
Lesenswert.

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Vladimir Vertlib: Zebra im Krieg

Vertlib, Vladimir
Zebra im Krieg. Roman nach einer wahren Begebenheit

Troll und Menschenfreund

Paul lebt mit seiner Familie kurz nach der Coronaepidemie in „Sodom und Gomorrha“, einer osteuropäischen Stadt im Bürgerkrieg. Es gibt Tote und Verletzte, Bombeneinschläge, Desinformation, Verfolgung, Mobs, Lebensmittelknappheit, Stromausfälle, Denunziation, Opportunisten und absurde Maßnahmen wie die plötzliche Einführung der Todesstrafe und der Sommerzeit, und die Stadt ist voller (Raub)tiere.
Zu seinem Pech hat Paul Beschimpfungen des momentan siegreichen Oberrebellen gepostet, er wird verhaftet und per Internetvideo gedemütigt, ist geächtet. Einmal möchte er das Richtige (wieder gut) machen, hilft seinen jüdischen Nachbarn, gerät aber dann erst recht in die Zwickmühle, diesmal durch das ursprüngliche Regime. Alles endet in Unsicherheit.
Vertlib verquickt zu viele Themen: Virtuelle Feindschaft und realen Hass, postsowjetische und neurechte Rhetorik, Antisemitismus, politische Analyse und Satire, Familienleben, Bibelmetaphorik, soziale Medien; trotzdem ist das Ganze eine zwar abgemilderte, aber unheilvolle Vorausschau auf die derzeitigen Zustände in der Ukraine. Die Menschheit lernt nicht.
Drastische, aber lauwarme Tragikomödie mit schematischen Figuren.

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