Sie sind hier

Neue Medien

Coverfoto Die Einsamkeit der ersten ihrer Art

Matthias Gruber

Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art

Schick einen Wunsch ans Universum

Salzburg, hier und heute. Die Familie klammert sich an den unteren Rand der Mittelklasse: Die Mutter versucht vom Onlineversand von Kosmetika zu leben, der Vater von Wohnungsräumungen. Beide träumen von mehr Geld. Die Tochter hat eine sichtbare, vererbte Krankheit und ist daneben in der Pubertät ohnehin einsam; sie möchte als erste ihrer Art ins Meer zurück. Alle leben zwischen Depression, materiellen Zwängen, Schulödnis und klimatischem sowie gesellschaftlichem Verfall. Die perfekte Social-Media-Welt ist da sowohl Fluchtpunkt wie Identifikationsmöglichkeit und verspricht Eintritt ins Glück durch Anpassung und Konsum. Dahin streben sie, so wie die meisten: Arielle legt ein Fake-Profil mit gestohlenen Fotos an, das sie benützt, um Anerkennung zu bekommen und überlässt es ihrer Mutter, um ihre Verkaufszahlen zu befeuern. Ihre optimierten Versionen sind Projektionsflächen, die versuchen, das Prekäre des echten Lebens wegzulassen, was natürlich nicht gut gehen kann.
Ein gelungenes Debüt über die Verlagerung der Hoffnungen ins Internet, das sie um nichts weniger existenziell macht.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Edelbauer, Raphaela:

Die Inkommensurablen

„Die Plausibilität ist aus dem ganzen Universum herausgesaugt“

Ein Bauernknecht flüchtet Stunden vor dem ersten Weltkrieg nach Wien, trifft eine Mathematikerin und einen Adeligen, mit denen er durch die Wiener Unterwelt torkelt. Sie sind schablonenhafte Figuren, die mehr oder weniger illuminiert zu jeder Tages- und Nachtzeit Philosophie treiben und eine konstruierte, mittlerweile folkloristische, Szenerie durchlaufen: Wien, der vielstimmige Schnittpunkt von Ost und West, der Vielvölkerstaat, die Monarchie im Zerfall, erwachte Nationalismen, Blasmusik und Lesbierinnen, Adel, Militär und Psychoanalyse. Sie hoffen, dass der Krieg die verkrusteten Verhältnisse umstürzt und verwirklichen so trotz selbst wahrgenommener Einzigartigkeit den kollektiven „Ursumpf aus Trieben, Impulsen und Geschlechtlichkeit“. Denn das ist die thematische Metapher: Mathematisch inkommensurabel sind irrationale Zahlen, denen das gemeinsame Verhältnis, die Ratio, fehlt, und in der historischen Distanz auch das Verhältnis von individuellem und Massenwahn.
Es hätte eine interessante Meditation über Massenpsychose in der Coronazeit geworden sein können, aber so wie Edelbauer sich in den Vorgängerromanen übergroße Vorbilder und Themen auflädt, so kann sie auch hier das Thema nicht adäquat durchführen. Etwas abgeschmackt.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Niedermeier, Manuel:

Das ist einer, der lebt!

Die Vergangenheit ist nur das Vorspiel für das Kommende

Der Erzähler mit den wechselnden sprechenden Namen „Winden“ bzw. „Schoner“ erzählt von lauter Flüchtenden: seinem Bruder, seinem Vater, seiner Partnerin, sich selbst. Er projiziert seine tragische Geschichte auf die Biografie und das Schaffen des historischen Arthur Cravan und erzählt diese, durchsetzt mit seinem eigenen Schicksal, im Livestream „als Abschluss“, parallel zu Cravans Aktion, sich auf der Bühne tot zu trinken. Der Stoff von Cravans Fiktionen sind zunächst Niederlagen (und der Anklang des Pseudonyms an „to crave“, sehnen, ist wohl beabsichtigt), und auch der Erzähler flüchtet in Fiktionen, denn „im Gitter der Syntax und im Schleier der Worte lässt sich fast alles bändigen.“ Doch ausnahmslos alle Fluchten, zumeist aus der Familie, scheitern.
Das Ganze wird im Kokainrausch etwas atemlos, sprunghaft mit Anklängen an Sturm und Drang und Coming-of-Age erzählt, aber mit spiegelbildlichen Figuren nett konstruiert. Es geht um Loslösung, ausgelieferte Kinder, Möglichkeiten von Literatur. Les- aber nicht unabdingbar.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Mosebach: Taube und Wildente

Mosebach, Martin

Taube und Wildente

Der Vorhölle entkommt man nicht

Rupert und Marjorie, er Verleger, sie Kolonialvermögenserbin, haben sich in ihrer jeweils zweiten Beziehung auf eine Art Nichtangriffspakt geeinigt, sie wollen sich nicht bedrängen, trennen sich in einem Moment des Hasses, landen aber nach einiger Zeit wieder beim alten Arrangement. Oft gelesen. Aber Mosebach kleidet das gekonnt in ein bezugsreiches Netz verarbeiteter Themen um Abhängigkeiten, Manipulation, philosophische Einstellungen, Kunst, Literatur und Gesellschaftsentwicklungen, unter dem distanzierten Blickwinkel der „Grausamkeit. Zuschauen, wie etwas Schönes zerfetzt wird.“ Eine besondere, mehrfach symbolische Rolle spielt das Bild „Tote Feldtaube und Wildente“, und der/die LeserIn sollte sich das Bild in Farbe ansehen (im Buch unkommentiert nur schwarzweiß), um darauf zu kommen, warum der Autor „tot“ eigentlich weggelassen hat, oder wer der ProtagonistInnen nur in diesen Größenverhältnissen dargestellt wurde. Leitthemen sind Blut, Gewalt, Zerstörung, aber auch Genuss des Dazwischen, regelmäßige Tätigkeit, Akzeptanz, gemischt mit scharfen Beobachtungen und satirischen Einlagen. Im ersten Teil sind die Kräfte am Werk, im zweiten Teil mit geklärteren, aber langweiligeren Verhältnissen.
Ein mehrschichtiges Buch mit Anknüpfungspunkten für viele LeserInnen (und Rezensionen).

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Schäfer: Die Schuhe meines Vaters

Schäfer, Andreas

Die Schuhe meines Vaters

Walk a mile in my shoes

Dem Erzähler zerfällt die Erinnerung an den Vater in Teilstücke, er verliert den „ganzen“ Menschen. Dieser hatte Metastasen im Schädel, erleidet eine Hirnblutung im Hirnstamm, die lebenserhaltenden Maschinen sollen abgeschaltet werden. Eindrücklich wird die Zumutung, das entscheiden zu sollen, sich vom Vater in diese Rolle, die ihm nicht zusteht, gedrängt zu sehen, geschildert.
Der Sohn beschreibt die positiven und negativen Erinnerungen an ihn, einen Einzelkämpfer, mit Pedanterie und einer gewisse Monomanie. Er schämte sich lange Jahre für ihn. Im zweiten „professionellen“ Teil nennt er Biografie und Lebensstationen, aber findet die persönliche Perspektive erst wieder, als er das Erzählte mit eigenen Erinnerungen als Jugendlicher unterfüttern kann. Im dritten Teil findet ein „erinnernder Abschied durch Wiederholung von Handgriffen und Gewohnheiten“ statt, er geht eine Wanderung des Vaters nach und erkennt, wie ähnlich er ihm eigentlich ist.
Auch formal bemüht sich Schäfer immer wieder um Abgrenzung, reflektiert über Berichtetes, Konstruiertes und Erlebtes. „Ich weiß nichts von ihm, und das wird immer so bleiben.“ Trotzdem eine Annäherung.
Empfehlung für ein unsentimentales, unschweres Erinnerungsbuch.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Langenegger: Was man jetzt noch tun kann

Langenegger, Lorenz

Was man jetzt noch tun kann

Durchkommen mit Sperrgepäck

Die Schweizer „Taugenichtse“ haben sich mit Robert Walser, Markus Werner und Christian Kracht verbreitet, und auch von diesem Autor sind sie aus den Vorgängerromanen bekannt. Sie empfinden Unbehagen am Alltag, haben geheime Ziele, aufgegebene Leidenschaften. Manuel, unser Protagonist, hat Zweifel an der Beständigkeit und keine Zuversicht, also alles, was ihm zum angepassten, erfolgreichen Leben fehlt. Das sieht auch seine Freundin so, ebenso wie sein beruflicher Lebenslauf. Er lässt sich durch die Umstände bestimmen, treiben, landet aber irgendwie immer auf den Beinen. Durch den überraschenden Tod seines Vaters mit Hinterlassenschaft einer maroden Firma und 200.000 Rohschlüsseln wird er aus seiner Beschäftigungslosigkeit gerissen, selbst die Freundin setzt ihn vor die Tür und er nimmt sich der Erbschaft an. Gleichzeitig wird er von einer zufrieden atmenden oder schnarchenden Person (seinem Vater? seinem Ich?) im Ohr belästigt, die er erst mit dem letzten Schlüssel loswird. Die Aventüre konfrontiert ihn mit seiner Vergangenheit, seinem Lebensentwurf, Reisen, zeitgenössischen Automaten, aber er findet einen neuen Anfang.
Recht mitfühlend geschilderte Trauerbewältigung der anderen Art, lakonisch bis heiter, leicht und unterhaltsam lesbar.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Peschka: Putzt euch, tanzt, lacht

Peschka, Karin

Putzt euch, tanzt, lacht

Projekt eines widerständigeren Älterwerdens

Die 57-jährige Fanni flüchtet - zunächst impulsiv und unsicher - aus ihren Lebensumständen, verlässt aber dann Ehe, Familie, Haus und Beruf und die damit verbundenen tradierten Regeln und Rollen. Sie findet Unterschlupf in einer halb verlassenen Almhütte und einer ebensolchen Freundschaft, hat Panikattacken, wird von einer neuen Freundin aufgepäppelt und stabilisiert, macht eine psychologische Reise in ihre Biografie und entdeckt die Stränge, die sie zeitlebens durchzogen haben. In immer sicherer gelingenden Akten der Selbstermächtigung schafft sie Rebellion und Emanzipation und gründet eine alternative freisinnige Wohnform, wo sie „sich an Besitz und Beziehung nicht binden lassen“ möchte. Diese „Schutzhütte“ stellt im Verhältnis zu ihrem vorherigen Leben eine Art optimistisches, aus der Zeit gefallenes Idyll dar, das ihr glückhaft zugefallen ist und welches sie zu kultivieren vorhat.
Mithilfe mehrerer Zeitebenen, ausgesparter Informationen, Bewegungen zwischen Orten und Figuren sowie leichter Verfremdung durch Verschiebung in die nahe Zukunft und mit einer Unmenge an Metaphern schafft Peschka sowohl Spannungsbogen als auch funktionierende Bezugskontexte.
Peschkas literarisches Werk sollte – vielleicht mit diesem Buch! – Platz finden in der Abteilung österr. Gegenwartsliteratur.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Horx, Tristan

Sinnmaximierung. Wie wir in Zukunft arbeiten.

Die Welt in groben Zügen

Zukunfts“forscher“ projizieren heutige Trends in die Zukunft und müssen ihre Prognosen verkaufen, am besten mit eingängigen Begriffen. Horx geht davon aus, dass Arbeit mehr sein soll als der Tausch von Lebenszeit gegen Geld und beobachtet gleichzeitig, dass Arbeitskräftemangel, Umweltzerstörung, ungleiche Kapitalverteilung, strenge Hierarchien, Gewinnmaximierungsdruck usw. herrschen. Ein Gegenkonzept ist „sinngetragene“ Arbeit, also Selbstwirksamkeit und Wirksamkeit für die Gesellschaft erleben können, Transparenz in der Firma, Homeoffice, 32-Stunden-Woche, Anerkennung durch gerechteres Gehalt, Nachhaltigkeit, Grundeinkommen usw. Das ist teils bekannt und wird wiederholt argumentiert.
Leider ist das Buch aber über weite Strecken ein Werbetext mit apodiktischen Aussagen: „Die Welt von morgen wird eine wunderbare sein, denn Sinn schlägt Zwang.“, „Geld, Macht, Status verleihen per se keinen Sinn.“ Und auch das eine oder andere „Fuck“ ist verzichtbar. Problemen, wie dass Roboter und Computer keine Steuern und Sozialabgaben bezahlen, wird eher ausgewichen (denn „Technologie erzeugt immensen Wohlstand“), immerhin das Grundeinkommen könne durch eine Finanztransaktionssteuer ermöglicht werden.
Unfertiger Eindruck, Kraut und Rüben. Verzichtbar.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Aro: Putins Armee der Trolle

Aro, Jessikka

Putins Armee der Trolle. Der Informationskrieg des Kreml gegen die demokratische Welt

Gelenkte Massen

Wir erleben aktuell nicht nur einen medial vermittelten Krieg mit, sondern können auch live die konträren Berichte über Ereignisse verfolgen (Pipelines durch russisches Militär oder amerikanischen Geheimdienst gesprengt; eine Stadt aus Sicherheitsgründen evakuiert oder eingenommen; gefolterte Leichen hinterlassen oder vom Gegner platziert…). Russische Desinformation ist spätestens bekannt seit dem Brexit, der Trump-Wahl, der Gelbwesten-Radikalisierung usw. Aro vollzieht nach, wie seit etwa 10 Jahren die Ukraine als „Ziel“ für die russische Invasion vorbereitet wurde, schildert an Einzelschicksalen das Ziel, Kritiker weltweit mundtot machen zu wollen und stellt breit ihr persönliches Schicksal als Opfer mehrerer konzertierter Hetzkampagnen dar. Sie nennt Methoden der Entmenschlichung des Feindes, Manipulation, Anschuldigung, Denunziation, Unterstellung, Desavouierung, auch Unterstützung extremistischer Gruppen u.a.
Anders als der Titel verheißt, geht es nicht nur um sozialmediale Trolle gegen die Demokratie, sondern recht allgemein um politische und wirtschaftliche Einflussnahme v.a. des FSB (Nachfolger des KGB), um „Putins“ Kapital zu schützen (Geld, Öl, Gas, Einflussgebiete).
Vieles ist schon bekannt; leichte „blinde Flecken“ bestehen dem „westlichen“ Standpunkt gegenüber, dass WikiLeaks, Manning und Snowden den Geheimdiensten schadeten, und die beabsichtigten Folgen der Desinformation wie Politikverdrossenheit und Establishment autoritärer Personen werden kaum erörtert. Gut gemeint, aber wenig erhellend.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Albig: Moralophobia

Albig, Jörg-Uwe

Moralophobia. Wie die Wut auf das Gute in die Welt kam

Wirklich: Angst vor dem Guten?!

Dieses kulturhistorische Nummernkabarett beginnt grundsätzlich: Es gehe nur noch um die Freiheit sich zu empören, um libertären Narzissmus – die naive Moral „Verletze niemanden, helfe soweit du kannst“ sei tot. Es gebe aber reale den zivilisatorischen Fortschritt Gewalt zu regulieren (u.a. durch das Gewaltmonopol des Staates) und den Gewaltbegriff auszuweiten (körperliche, verbale, sprachliche, naturausbeuterische, sexuelle usw. Gewalt). Dann geht es belletristisch weiter: Albig zählt historische Persönlichkeiten und wirtschaftliche sowie Ideenkonflikte kapitelweise auf, um die These zu illustrieren, dass „Gut“ gegen „Böse“ kämpfe. Man könnte natürlich auch sagen: alt gegen neu oder Geld gegen weniger Geld, aber das wird nicht diskutiert. Die Helden sind „Abgehängte“ (Götz v Berlichingen), Entlassene (Machiavelli), Abgestiegene (de Sade), Ausbeuter (Südstaaten gegen Nordamerika), Erfolglose (Nietzsche), Kriegsverlierer (Spott als Schamreaktion), Opportunisten (Ex-Nazis),  Kriminelle (Al Capone bzw. Donald Trump als Wildwestler).
Das Ganze ist etwas psychoanalyselastig (Alkohol als Regressionshilfe, die man in der Prohibition von Al Capone ersehnte?) und ohne wirkliche Interpretation, etwa, dass die antimoralischen Argumente immer gleich das Recht der Stärkeren (Natur) behaupteten, was real abnahm.
Unterhaltsam, gut geschrieben, teils lehrreich, aber Feuilleton.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Peter Zantingh: Nach Mattias

Zantingh, Peter
Nach Mattias

8 Spiegel des Verlustes

Mattias ist „in der Blüte seiner Jahre völlig unerwartet von uns gegangen“, wie Todesanzeigen verschleiernd behaupten. Wie das passiert ist, lässt der Autor in Form von 8 Erzählstimmen aus je eigener Perspektive beleuchten. Angesiedelt im heutigen präcovidianischen Europa kommen Partnerin, Freunde, Familie und deren Kontakte zu Wort und nähern bzw. entfernen sich von Mattias mit menschlichen Reaktionsweisen auf Verluste: sehnsüchtig, diszipliniert, selbstbezogen, drogenabhängig, realitätsflüchtig, rational oder verleugnend.
Die Kapitelfolge um eine „Leerstelle“ ist unterhaltsam bis melodramatisch und findet ein etwas erklärendes, überdeutliches Ende in einem überindividuellen Gemeinschaftserleben.
Ein Beispiel internationaler Gegenwartsliteratur mit aktuellen Bezügen zur Lebensrealität Ende der 2010er-Jahre.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Daniel Dettling: Zukunftsintelligenz

Dettling, Daniel
Zukunftsintelligenz statt Zukunftsangst: menschliche Antworten auf die digitale Revolution

Jetzt ist auch schon die Zukunft digital

Die Themen, die sich der Autor vornimmt, formuliert er zunächst populistisch-verkürzend, fast schon satirisch: „Werden uns die Maschinen ersetzen? Können wir den Tod besiegen? Und was hält uns in Zukunft zusammen, wenn (…) wir von Daten kontrolliert werden?“
Den Chancen und Risken der informationstechnologischen Auswirkungen auf Arbeit, Gesundheit und Demokratie widmet sich Dettling dann aber eher dialektisch: Er stellt aktuelle und optimistische Szenarien einander gegenüber und macht in der Synthese viele politische Gestaltungsvorschläge.
Das digitalisierte Arbeiten mache die Menschen freier für „Werte, Qualität und Sinn“, gemeinnützige Arbeit, Weiterbildung, längeres Arbeitsleben; die Freigestellten sollten nach besteuerter digitaler Wertschöpfung sozialstaatlich unterstützt werden. Maschinen werden uns zum Teil ersetzen.
Digitale Wege der Gesundheitsversorgung und -vorsorge könnten das Altern verzögern, den Tod aber nicht abschaffen. Die Ursache der Demokratieschwäche liege nicht in der Digitalisierung, aber jener könne durch politische Regulierung und Partizipation begegnet werden.
Am Ende sichern sieben moralische Imperative gegen mögliche verbliebene Zukunftsängste ab.
Die analytischeren Strecken des Buches sind nachvollziehbar, aber immer wieder mit zeitgeistigen Phrasen durchsetzt, Einleitung und Abschluss stark motivationsseminarisch.
Eingeschränkt empfehlenswert.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Dirk Brockmann: Im Wald vor lauter Bäumen

Brockmann, Dirk
Im Wald vor lauter Bäumen. Unsere Komplexe Welt besser verstehen

Was Systeme stabil und instabil macht

Brockmann ist theoretischer Physiker und Mathematiker, hat sich dann aber u.a. mit neuronalen Netzen, Augenbewegungen, Verkehrsströmen und Covid-Eindämmungsmaßnahmen beschäftigt. In diesem Buch möchte er das Feld der Komplexitätsforschung darstellen, was aber erst nach rund 60 Seiten ins Laufen kommt. Er zeigt, wie sich oszillierende Elemente synchronisieren (vom Sinusknoten des Herzens bis zum Zikadenzirpen) und dabei kritische Kipppunkte erreicht werden, mit denen sich vorher stabile System radikal ändern (evolutionäre Schritte, Pandemien). Er erklärt, wie es in Netzwerken zu natürlichen dichten Verknüpfungen kommt (Superspreader), dass kollektive „Entscheidungen“ auf einfachen Regeln und Beachtung der Nachbarn beruhen (Vogelschwärme, Meinungsbildung) und dass gekippte Systeme irreversibel verändert sind. Die Perspektive, dass Organismen seit Jahrmillionen symbiotisch sind (Menschen bestehen aus mindestens gleich vielen bakteriellen wie humanen Zellen), öffnet den Blick weiter auf Klimawechsel und notwendiges vernetztes Denken, um die Hybris des Menschen vielleicht zu überwinden.
Leicht fassliche und ohne mathematische Modelle auskommende Überblicksdarstellung.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Valentin Groebner: Bin ich das?

Groebner, Valentin
Bin ich das? Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft

Ich bin so toll!

Das Buch zeugt von einem gewissen Widerwillen, Auskunft über sich selbst zu geben, aber gleichzeitig vom Gefangensein im eigenen Käfig (immerhin ist diese Selbstbefragung ja entstanden während Homeoffice und Corona). Groebner widmet sich assoziativ den verschiedenen Spielarten der Ich-Behauptung, nicht als trockene Narzissmus-Forschung, sondern als ausschweifende Reflexion über Geschichte und aktuelle Auswüchse der Ich-Nennung: Schon in Beichte und Autobiografie, Psychoanalyse und kommunistischer Selbstkritik dient die Selbstoffenlegung immer einer Verbesserung vor Publikum. Das Phänomen der Influencer offenbart, dass der Kapitalismus den Konsum zur Steigerung der eigenen Attraktivität nützt. Wir lieben uns selbst und halten uns immer für besser, rufen nach Aufmerksamkeit und verbringen viel Zeit damit, uns vor den Spiegel zu stellen. Unsere Wünsche werden durch Konsum erfüllbar. Weiters führt Groebner Rückgriffe auf „Heimat“ und „Wir“ an, die eher Sehnsüchte oder Andersartigkeit im Blick haben als definierbare Inhalte. Auch die Liebe wird als Überstülpung des Ich auf jemanden analysiert und das Jammern als Verweis auf einen selbst. Am Ende plädiert er für etwas mehr Gelassenheit, weil „ich gewöhnlich nicht gemeint bin von dem, was ich sehe.“
Unterhaltsame Kulturwissenschaft.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Jon McGregor: Stürzen Liegen Stehen

McGregor, Jon
Stürzen Liegen Stehen

Kommunikationseinschränkungen durch und durch

Es ist eine Menge melodramatischer Zutaten: Antarktissturm und Bergungsaktion, eine erfolgreiche Gattin, die plötzlich den Mann pflegen soll, die Familie, die keine Hilfe ist, Sprachverlust und Verdächtigungen. Die Hauptfigur fährt schon 30 Jahre lang halbjährlich auf Forschungsstationen, seine Frau hat ihn geheiratet, damit sie ein halbes Jahr für sich hat und verfolgt ihre Karriere als Wissenschaftlerin. Während eines Sturms erleidet er einen Schlaganfall und ein Teammitglied stirbt, aber es bleiben Anschuldigungen, ob er Hilfe unterlassen hat. Sein Weg ist ein Weg in die Stille, und auch die Gattin fühlt sich in der Angehörigenposition belästigt von SMS, E-Mail, Anrufen, Arbeit. Sie begegnet den Zumutungen gebetsmühlenartig, und so ist der Alltag im Buch auch gut geschildert vorstellbar. Es dreht sich alles um ihn und sie findet keine Ruhe. Weite Strecken schildern Aphasietherapie und Ressourcenknappheit und der dritte Teil spielt großteils in der Gruppentherapie, wo Robert sich öffnet, die Vorfälle endlich darstellen kann und wieder zu einer Kommunikationsform findet.
McGregor gelingt es aus mehreren Perspektiven Spannung zu erzeugen, zeigt mit feiner Ironie die Brüche der Kommunikation, Schicksale werden nicht aufgelöst, was gesamt ein recht realistisches Bild über die Belastungen für Betroffene und Angehörige nach Schlaganfällen ergibt.
Lesenswert.

Rezension von German Brandstötter auf https://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html

Seiten